Das Kafkaeske an Kafka vergessen

Kafkaesk – es ist dieses Adjektiv, das deutlich macht, wie sehr die Literatur Franz Kafkas (1883–1924) die Menschen beschäftigt hat, wie viel sie ihnen zu denken aufgibt und an Fragen offenlässt. Anfangs benutzte man das Wort, um literarische Textmerkmale Kafkas zu bezeichnen oder aber Werke, die den seinigen im Stil ähneln. Mit der Zeit aber wurde daraus ein Begriff, der vor allem außerhalb der Literatur zum Einsatz kommt, immer dann, wenn ein Sachverhalt rätselhaft, unheimlich, bedrohlich scheint, wenn eine Bürokratie im Spiel ist, die sich nicht in die Karten schauen lässt, wenn wir von einer Macht abhängig sind, die im Verborgenen bleibt. All diese Motive greift Kafka in seinen Werken auf und zwar in einer Weise, die den Leser fesselt, bedrückt oder manchmal – erheitert.

Briefmarke der Deutschen Post von 2008 mit Franz Kafka.Eine Kafka-Erzählung, die besonders an die Substanz geht, ist „In der Strafkolonie“. Dort schildert Kafka das befremdliche Rechtssystem einer auf einer Insel gelegenen Strafkolonie. Es sieht vor, dass alle Verurteilten von einem Apparat stundenlang bis zum Tod gefoltert werden. Das monströse Gerät ritzt den Angeklagten das Gebot, das sie übertreten haben sollen, immer tiefer in den Körper. Kafka beschreibt diese abstoßende Szenerie detailreich und nüchtern. Dass er damit bei vielen Lesern Verstörung hervorruft, dürfte nicht erstaunen. Eine der bekanntesten Kafka-Legenden besagt, dass mehrere Menschen in Ohnmacht fielen und viele den Saal verließen, als Kafka im November 1916 in München aus der Erzählung las. „Niemals habe ich eine ähnliche Wirkung von gesprochenen Worten erlebt“, schrieb Max Pulver in seinen Erinnerungen an Franz Kafka. In anderen Besprechungen des Abends ist zwar von einer ablehnenden Reaktion des Publikums zu lesen, nicht aber in dieser drastischen Form, sodass an der Darstellung Pulvers immerhin Zweifel bestehen.

Briefmarke aus Israel von 1998 mit Franz Kafka.Kafka war ein begeisterter Schreiber, doch ernährte ihn seine Passion nicht. Er verdiente sein Brot von 1908 bis 1922 (bis zwei Jahre vor seinem Tod) als Beamter für die „Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen“ in Prag, wo er bis zum Obersekretär befördert wurde. Er war folglich mit Bürokratie und Machtstrukturen, den so zentralen Motiven seiner Werke, bestens vertraut. Gerne ausgeübt hat er diese Tätigkeit keineswegs. Vielmehr sprach er von einem „Manöver-Leben“, das er zu führen hatte. Er arbeitete vormittags, schlief nachmittags und schrieb des Nachts. Hielt er erst einmal die Feder in der Hand, geriet er oft n einen regelrechten Schreibrausch.

Seine Literatur zählt heute uneingeschränkt zu den Klassikern. Und selbstverständlich lässt sie verschiedenste Lesarten zu. Man nehme nur die Erzählung „Die Verwandlung“ mit dem berühmten ersten Satz „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“ Gedeutet wurde diese Erzählung unter anderem religiös (durch Max Brod), psychologisch und biographisch (Vater-Sohn-Konflikt) und soziologisch (die Familie Samsa als Abbild der gesellschaftlichen Verhältnisse).

Briefmarke der Deutschen Bundespost von 1983 mit Franz Kafka.Dass wir heute, an Kafkas 130. Geburtstag, auch die (teils unvollendeten) Werke lesen können, die zu seinen Lebzeiten nicht publiziert wurden (der Großteil!), ist Max Brod zu verdanken. Dieser setzte sich über Kafkas letzten Willen hinweg, indem er seine Romane und Erzählungen nicht wie aufgetragen vernichtete, sondern veröffentlichte. Wer könnte ihm das übel nehmen? Vielleicht geschah es letztlich sogar in Kafkas Sinne, der alles Geschriebene ja auch zu Lebzeiten selbst hätte vernichten können, es aber nicht getan hatte.

Zum Schluss sei noch auf den humorvollen Kafka hingewiesen. Kaum zu glauben, aber wahr, versucht man einmal nicht an das Kafkaeske in Kafkas Werken zu denken, enthalten viele seiner Texte auch Komik. Kafka selbst soll beim Vorlesen des ersten Romankapitels von „Der Prozess“ schallend gelacht haben. Versuchen Sie doch mal, es ihm gleichzutun.

Authored by: Tanja Uhde

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert