„Kunst soll ein Ungeheuer sein!“

„Kunst soll ein Ungeheuer sein!“

Schauspieler beschimpfen und verhöhnen das Publikum von der Bühne herunter, dieses antwortet mit geworfenen Tomaten und Eiern. Es kann sich bei dieser Szene um eine misslungene Aufführung eines beliebigen Theaters, aber auch um eine gelungene Dada-Darbietung handeln. Schon über die Frage, was sich hinter dem Wort „Dada“ verbirgt, kann nur spekuliert werden. Es kursieren Vermutungen, dass es sich bei der Silbe „da“ um die rumänische Vokabel für „ja“ handelt – also ist es ein Abgesang auf die „Ja-Sager“? In der französischen Kindersprache bezeichnet „Dada“ das „Steckenpferd“. Ein weiteres Gerücht besagt, dass es sich lediglich um den Namen eines damals in Zürich sehr beliebten Haarwaschmittels gehandelt habe. Vielleicht verbarg sich hinter dieser Wortschöpfung auch kein tieferer Sinn. Seinen Bewegungscharakter bekam Dada mit der Veröffentlichung des „Manifestes des Dadaismus“ durch den in Zürich lebenden rumänischen Künstler Tristan Tzara am 9. Dezember 1918. Es exponierte sich eine Bewegung, die keine Bewegung sein wollte. Es sammelten sich Künstler, die gerade ihr Künstler-Dasein dementierten.

Die Veröffentlichung des Manifestes hatte eine Vorgeschichte: Tristan Tzara, einer der Hauptautoren des Manifestes, war ein „angry young man“ des Literaturbetriebes. Er wurde 1896 in Moine?ti in Rumänien geboren. Sein eigentlicher Name war Samuel Rosenstock. Während des Ersten Weltkrieges kam er in Zürich an und begann, die dortige Kunstszene unsicher zu machen. 1916 gründete er die erste Dadaismus-Gruppe. Das dadaistische Manifest wurde bereits in dieser Zeit geschrieben. Die Zeit war aber noch nicht reif für seine Veröffentlichung. Dazu kam es erst nach dem Ende des Ersten Weltkrieges.

Tristan Tzara auf Briefmarke aus Rumänien von 1996

Kritik an Vernunft und Logik

Dada war eine radikale Kritik an Vernunft und Logik und eine klare Absage an die bürgerliche Gesellschaft. Als Alternative wurde auf Unsinn, Irrationalität und Spontanität gesetzt. Die bürgerlichen Künste und die Literatur versprachen das Gute, Wahre und Schöne, haben aber alle ihre Kräfte für die Legitimation des Krieges aufgeboten. Die Enttäuschung über diesen Sachverhalt schlägt sich im Manifest nieder. Kunst soll keine gefällige Unterhaltung für angepasste Geister sein. Sie soll schockieren und aufrütteln. So schreibt Tzara im Manifest: „Kunst soll ein Ungeheuer sein, das unterwürfige Gemüter aufschreckt, kein Bonbon, das die Esszimmer von Tieren in menschlicher Verkleidung schmückt.“ Die Wirkung dieses Manifestes wird mit einer Bombe verglichen. Man konnte diesen Text nicht lesen, ohne spontan begeistert oder angewidert zu sein. Vielleicht war auch beides gleichzeitig der Fall. Es ist ein Text, der ebenso irrsinnig wie intelligent wirkt. Die Frage, was unter Dada nun zu verstehen sei, blieb in diesem Flugblatt allerdings weiter unklar. Es endet mit den Worten: „Gegen dies Manifest sein, heißt Dadaist sein!“

Mit dieser Veröffentlichung wurde Dada massenwirksam. Hierfür war der Zeitpunkt besonders relevant: Die Zensur wurde nach dem Ersten Weltkrieg aufgehoben und das Flugblatt mit dem Manifest konnte überall verteilt werden, in Frankreich, in Deutschland, in ganz Europa und Nordamerika. Nun konnte es künstlerisch ambitionierte Köpfe auf der ganzen Welt beeinflussen. Dada ist zwar eine Kunstbewegung, die als Reaktion auf die Schrecken des Ersten Weltkrieges entstanden ist. Es wurde gezielt die obrigkeitshörige Künstlerkaste der damaligen Zeit provoziert. Die vermeintliche Vernunft und Logik, die in den Krieg geführt hatte, wurde gezielt angegriffen. Es war die Kampfansage an eine bürgerliche Schriftsteller-Zunft, die den Ersten Weltkrieg mit den Schriften Goethes und Schillers rechtfertigen wollte.

Programmatisch wurde Dada aber für das gesamte zwanzigste Jahrhundert. Dada kann dem Kulturkritiker Greil Marcus zufolge als die Initialzündung für die Gegenkulturen der Gegenwartsgesellschaft interpretiert werden. Kulturelle Protestbewegungen haben keinen Herrscher gestürzt, aber sie hinterließen subtile Spuren. „Lipstick Traces“, Lippenstiftspuren wie nach einem Kuss oder auf einer weggeworfenen Zigarette. Spuren, die detektivisches Gespür erfordern. Deshalb nannte Marcus sein Projekt auch die „geheime Kulturgeschichte“. Aber es waren auch Spuren, die in Erinnerung bleiben. Bei der antiautoritären Revolte 1968 und beim Punk wurde ein Vergleich zu Dada schnell gezogen, aber auch die experimentelle Lyrik Ernst Jandls und vieles mehr wurde maßgeblich von Dada beeinflusst.

Authored by: mgloger

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