100 Jahre Künstlergruppe „De Stijl“

100 Jahre Künstlergruppe „De Stijl“

Ein rotes Quadrat, ein gelbes Quadrat und blaue Rechtecke – gelagert in ein Gitternetz aus schwarzen Linien mit großen weißen Flächen. Mehr braucht ein abstraktes Gemälde des niederländischen Malers Piet Mondriaan (1872? 1944) nicht. Seine Malerei war Teil der künstlerischen Bewegung namens De Stijl (deutsch: Der Stil), die 1917 mitten im Ersten Weltkrieg von Mondriaan, seinem Künstlerkollegen Theo van Doesburg und weiteren Malern, Bildhauern, Architekten und Formgestaltern im niederländischen Leiden gegründet wurde. Die Gruppe entwickelte sich zu einem lockeren Zusammenschluss von Künstlern aus ganz Europa um die gleichnamige Kunsttheorie-Zeitschrift „De Stijl“, die bis 1928 erscheinen sollte. Sie bot die Möglichkeit, das intellektuell anspruchsvolle, auch ins Transzendent-Übersinnliche reichende Programm der Gruppe zu entwerfen und zu diskutieren.

Die Kraft der Geometrie

Die De-Stijl-Künstler wollten alle Bereiche der Kunst – Malerei, Bildhauerei, Architektur, Design, Typografie – durch eine „neue Gestaltung“ von Grund auf verändern und forderten in ihrem ersten Manifest vom November 1918 nichts weniger als die „Bildung einer internationalen Einheit in Leben, Kunst und Kultur“. Das Individuelle und Subjektive sollte in der Kunst nicht länger zum Ausdruck kommen, das isoliert arbeitende Künstler-Genie nicht mehr im Zentrum stehen. Stattdessen sollte eine überindividuelle Künstlergemeinschaft eine allgemeingültige, quasi objektive Kunst schaffen. Die De-Stijl-Künstler nahmen hierzu Anleihen bei den aktuellen Kunstströmungen des Kubismus und des russischen Konstruktivismus. Die De-Stijl-Kunst ist eine reine, ungegenständliche Kunst mit einer radikalen Reduktion der Farbpalette auf Schwarz, Weiß und Grau in Verbindung mit den Grundfarben Rot, Blau und Gelb. Hinzu tritt eine klare geometrische Ordnung mit kubischen Formen, rechten Winkeln, waagerechten und senkrechten Linien. Symmetrie soll vermieden werden. Die Kontraste entstehen aus den Gegensätzen der elementaren Formen und ihrer Anordnung. Das war in den 20er-Jahren eine so neuartige Farb- und Formensprache, dass sie wegen ihrer Radikalität von den Zeitgenossen kaum verstanden wurde.

1983 erinnerte die Niederländische Post an die Künstlergruppe De Stijl mit zwei Sondermarken, die Gemälde von Piet Mondriaan vorstellten. Auf der Marke zu 50 Cent sehen wir die „Komposition“ von 1922, auf dem Wert zu 65 Cent die „Kontrakonstruktion des ‚Maison particulière‘“. Die Marken feierten weder ein Jubiläum noch ein anderes aktuelles Ereignis (beide Abb. Schwaneberger Verlag).

Konstruktivisten und Dadaisten

Jacobus Johannes Pieter Oud gestaltete das Kongressgebäude in Den Haag – niederländisch ’s-Gravenhage. 1969 wurde es eröffnet, im selben Jahr erschien die Ausgabe der Sommer-Zuschlagsmarken mit Darstellungen moderner Architektur. Die Halle im Stil des Neuen Bauens erhielt kurz nach Beginn des 21.?Jahrhunderts den Namen World Forum.

Theo van Doesburg (1883? 1931), heute ein eher unbekannter Vertreter der künstlerischen Avantgarde zwischen 1910 und 1930, war neben Mondriaan der wichtigste Theoretiker und Vermittler der niederländischen Künstlerbewegung. Als verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift „De Stijl“ förderte er die internationale Zusammenarbeit der Künstler und machte das Projekt durch persönliche Kontakte, Ausstellungsbeteiligungen und Vortragsreisen in Europa bekannt. In den Jahren 1921 und 1922 stand van Doesburg zudem in Verbindung mit dem Staatlichen Bauhaus in Weimar, der bedeutendsten zeitgenössischen Kunst- und Architekturhochschule, und gab dort Privatkurse, in denen er sich als Konstruktivist kämpferisch gegen die expressionistisch-handwerkliche Ausrichtung des Bauhauses wandte.
Seine europaweiten Kontakte nutzend, organisierte van Doesburg den „Internationalen Weimarer Kongress der Konstruktivisten und Dadaisten“ im September 1922. Der Dadaismus, wie De Stijl im Ersten Weltkrieg entstanden, war zum Gutteil eine anarchische Kunstbewegung. Die Nonsense-Poesie der Dadaisten, ihre Lust an Klamauk, Ironie und Irrationalität waren für van Doesburg dabei kein Gegensatz zur geometrisch-abstrakten Kunst von De Stijl: Beide bekämpften seiner Ansicht nach auf ihre Weise die überholte bürgerliche Kultur und ihre gegenständliche Kunst. Van Doesburg publizierte unter Pseudonym in einer eigenen Zeitschrift sogenannte Buchstabenlautgedichte und absurde Manifeste in eigenwilliger Typografie und gilt heute als einer der Begründer der konkreten Poesie. Anfang 1923 lud er den deutschen Dadaisten Kurt Schwitters sogar zu einem „Dada-Feldzug“ durch die Niederlande ein. Ihre Klanggedichte und theatralen Inszenierungen verunsicherten und erregten das Publikum gleichermaßen.
Schon bald zeigten sich in dem lockeren Bündnis der De-Stijl-Künstler erste Risse: Nicht nur die Beschäftigung mit dem Dadaismus, sondern auch die Weiterentwicklung in van Doesburgs Malerei zum Elementarismus führte zum Zerwürfnis zwischen ihm und Piet Mondriaan. Dieser wollte es nicht hinnehmen, dass van Doesburg in seiner Malerei Diagonalen einführte und damit die strenge Geometrie der reinen De Stijl-Lehre auflockerte. Bereits 1928 erschien die letzte reguläre Nummer der Zeitschrift, die der Künstlergemeinschaft den Namen gegeben hatte. 1932 kam noch eine Gedenkausgabe nach van Doesburgs Tod heraus.
Haus und Stuhl wie ein Mondriaan-Bild

„Einheit in Leben, Kunst und Kultur“

Bereits zweimal kam das 1924 errichtete Rietveld-Schröder-Haus in Utrecht zu Markenehren. Hier sehen wir die Sommermarke von 1969, die lediglich Gerrit Rietveld als Architekten benennt. 2014 wies Post NL auch auf die Bauherrin Truus Schröder-Schräder hin. Die Innenarchitektin begleitete den Bau vom ersten Entwurf an. Dieser überzeugte sie nicht, weshalb beide gemeinsam die Grundrisse ausarbeiteten und Rietveld in der Folge zwei neue Pläne zeichnete, von denen einer dann realisiert wurde. 1976 erfolgte die Eintragung in die Liste der Reichsdenkmäler (Rijksmonument), 2000 in die Unesco-Liste des Weltkulturerbes.

Die Idee des Gesamtkunstwerks konnten die De-Stijl-Künstler am besten auf dem Gebiet der Architektur und des Designs umsetzen. Der Architekt und Designer Gerrit Rietveld (1888?1964), der sich De Stijl zugehörig fühlte, baute 1924 für die Innenarchitektin Truus Schröder in Utrecht ein Wohnhaus wie ein dreidimensionales Mondriaan-Bild: Der Bau ist streng geometrisch, funktionell-rational ohne Ornamente, kombiniert mit den Primärfarben Blau, Gelb, Rot und weißen Wänden. Zwischen Außen und Innen wird die Grenze durch große Fensterflächen aufgelöst, im Inneren sind Zwischenwände anpassbar, wodurch Dynamik entsteht.
Das Rietveld-Schröder-Haus, das heute zum Unesco-Weltkulturerbe gehört, beherbergt einen Klassiker des Möbeldesigns, der auch von Mondriaan inspiriert wurde: den „rot-blauen Lehnstuhl“ Rietvelds. Wiederum zeigt sich die strenge geometrische Anordnung bei gleichzeitig offener Form und die klare Farbgebung. Dieser Stuhl ist ein Kunstwerk, eine Stuhl-Skulptur – als bequemes Sitzmöbel taugt er mit Sicherheit nicht.
Auch van Doesburg war als Architekt aktiv. Zusammen mit seinen deutschen Freunden Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp entwarf er 1927 die Innengestaltung der „Aubette“, eines modernen Kultur- und Unterhaltungszentrums im französischen Straßburg mit Kino, Festsaal, Restaurant und Café. Die avantgardistische, strenge Gestaltung mit klaren Linien und den typischen De-Stijl-Farben stieß nur auf wenig Begeisterung der Besucher. Bereits Ende der 30er-Jahre war die Original-Innenausstattung weitgehend verändert und zum Teil zerstört; erst in den 90er-Jahren wurde das Gebäude aufwändig restauriert und steht heute unter Denkmalschutz.

De Stijl ist stylish

Die Grundprinzipien der Künstlergruppe De Stijl prägen die Architektur der Moderne bis heute: Jedes weiße, kubische Großstadt-Townhouse mit klaren Linien und über Eck gebauten Fensterflächen nimmt Anleihen daran. Bilder von De-Stijl-Malern werden auf Kunstauktionen heute hoch gehandelt und gehören zu den Ikonen der Klassischen Moderne. Aber nicht nur das: De Stijl ist auch zu einer Marke der Gegenwartskultur geworden. Piet Mondriaans farbige Geometrie inspirierte 1965 den französischen Modemacher Yves Saint Laurent zu einer Kollektion von ärmellosen Cocktailkleidern im Mondriaan-Stil. Und in den 80er-Jahren war ein Team von Fahrradprofis bei der Tour de France mit Trikots im auffälligen Mondriaan-Look unterwegs: abstrakte Kunst zum Anziehen also. Die niederländische Künstlergemeinschaft De Stijl wollte ja auch keine Kunst fürs Museum machen, sondern eine „Einheit in Leben, Kunst und Kultur“ schaffen – und das ist ihr gelungen.

Text: Frauke Klinge

Authored by: Stefan Liebig

There are 3 comments for this article
  1. Myriam Thyes at 10:14

    Sehr geehrte Damen und Herren,
    dieser Passus stimmt nicht ganz: „Auch van Doesburg war als Architekt aktiv. Zusammen mit seinen deutschen Freunden Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp entwarf er 1927 die Innengestaltung der „Aubette“, eines modernen Kultur- und Unterhaltungszentrums im französischen Straßburg mit Kino, Festsaal, Restaurant und Café.“
    Den Auftrag hatte Sophie Taeuber-Arp erhalten. Da die Neugestaltung der Aubette umfangreich war, zog sie ihren Mann und Theo von Doesburg hinzu. Es handelte sich dabei zudem um Innenarchitektur, nicht um Architektur.
    Freundliche Grüße, M. Thyes

  2. Myriam Thyes at 10:20

    Noch ein Fehler: Sophie Taeuber-Arp war nur bei Geburt Deutsche, dann Schweizerin. Das Ehepaar Arp nahm 1926 die französische Staatsbürgerschaft an (im gleichen Jahr, als sie die Aubette bearbeiteten).

    • Stefan Liebig Author at 14:08

      Wenn das ein ausführlicher Text über Sophie Taeuber-Arp und Hans Arp gewesen wäre, wäre der Punkt mit den wechselnden Staatsbürgerschaften sicher interessant gewesen und auch die Frage, wer den Auftrag zuerst erhielt. In einem Text, der De Stijl knapp und allgemeinverständlich darzustellen versucht hat, sind solche Spezialthemen aber meines Erachtens nicht zielführend. Die LeserInnen sollten erfahren, dass De Stijl auch Innenraumgestaltung öffentlicher Gebäude bedeutete und dass van Doesburg mit den Arps zusammenarbeitete. Das geht aus dem Text auch hervor.
      Frauke Klinge

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert